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Korbacher Parlament debattiert erneut über Atemwege und Luftmessungen

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Gesundheitslage: Dicke Luft um dünne Daten


Nach der Debatte um das Heizkraftwerk geht es im Korbacher Parlament abermals um Atemwege und Luftmessungen


„Wir sollten nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“, warnt FDP-Fraktionschef Arno Wiegand. Doch Grünen-Sprecherin Doris Jauer gibt die Warnung am Ende schulterzuckend zurück: „Herr Wiegand, wenn wir jetzt so weitermachen, dann bleibt am Ende nur noch ,Meine Damen und Herren‘ stehen.

“Das zugespitzte Resümee einer langen Debatte vorige Woche im Korbacher Bauausschuss (wir berichteten) macht eines deutlich: Wenn es um Gesundheitszustand und Luftqualität in Korbach geht, stochern Politiker, Wissenschaftler und Bevölkerung immer noch im Nebel.
Deshalb tun sich die Parlamentarier und die Stadtverwaltung auch so schwer mit Entscheidungen. Und am Donnerstag steht in der Stadtverordnetensitzung abermals ein Beschluss an – über „humantoxikologische Belastungssituation“, Luftmessungen, „runden Tisch“ und mögliche Aufträge für Wissenschaftler.
Der Ursprung aller Aufregung lässt sich schlicht beschreiben, auch wenn es zynisch klingen mag: Mit dem Heizkraftwerk ist die Luft in Korbach nach allem Ermessen nicht spürbar schlechter geworden. Doch gerade durch dieses in der Bevölkerung umstrittene Projekt führen die Kreisstadt, aber auch der Kreistag seit 2006 eine hitzige Diskussion um Luftqualität und Gesundheitszustand – insbesondere von Kindern.
Wiederholt war es dabei das hessische Sozialministerium, das Bedenken aufbrachte gegen Beschlüsse in Waldeck-Frankenberg und letztlich beim Regierungspräsidium (Kassel) als Genehmigungsbehörde. Dabei steht die Landesregierung in Wiesbaden unter Ägide der CDU ja kaum im Ruf, von Öko-Ideologen beseelt zu sein.

Mahner aus Wiesbaden


Trotzdem schickte 2006 ein hochrangiger Mitarbeiter aus Wiesbaden eine kritische Analyse von Schuleingangsuntersuchungen. Die erbrachten den Verdacht, dass Kinder in Korbach häufiger an Bronchitis leiden als im hessischen Schnitt.
Im November 2007, das Kraftwerk zur Müllverbrennung war gerade im Bau, kam aus dem Sozialministerium urplötzlich ein weiterer Brief – gerichtet an den Landkreis: Die Datenlage über den Gesundheitszustand, insbesondere bei Kindern, sei zu vage. Staatssekretär Gerd Krämer empfahl deshalb, aussagekräftige Daten zur „Immissionsbelastung“ in Korbach zu erheben – und zwar „vor Inbetriebnahme des Kraftwerks“.
Trotzdem ging das Kraftwerk 2008 ans Netz. Dabei verwiesen Betreiber MVV Energie (Mannheim) und Abnehmer Continental auf etliche Analysen und Berechnungen im Genehmigungsverfahren.
Betreiber und Aktionsbündnis kritischer Bürger beauftragten überdies Wissenschaftler für eine jeweilige Begutachtung. Fazit: Der eine sagt okay, der andere warnt vor Gefahren.
Conti ließ eigenständig externe Institute die Emissionen unter die Lupe nehmen. Fazit: Alles im Lot, die weitaus meiste Luftbelastung kommt gar nicht aus der Industrie.
Hinzu gesellten sich neue Erkenntnisse aus einer regelmäßigen Flechten-Kartierung für Korbach und Umgebung. Denn Flechten geben als „Bio-Indikator“ Aufschluss über die Luftbelastung. Fazit: Die Luftqualität in Korbach hat sich verbessert, aber stellenweise – und im Windschatten von Conti – könnte sie besser sein.
Im Auftrag des Landkreises legte im Frühjahr 2009 zudem der Düsseldorfer Umweltmediziner Professor Ulrich Ranft eine „Kinderstudie“ vor. Fazit: Es gibt Hinweise auf erhöhte Bronchialerkrankungen bei Kindern – aber nicht nur in Korbach, sondern auch in Frankenberg und Gemünden. Und dort steht weder ein Conti-Schornstein noch ein Heizkraftwerk.
Wissenschaftler aus München (Professor Erika von Mutius) und Gelsenkirchen (Dr. Ulrich Ewers) wiederum hegten schriftlich Zweifel an den Erkenntnissen von Ranft. Fazit: Die Datenbasis, also die Zahl an Kindern, war viel zu gering. Atemwegserkrankungen könnten viele Ursachen haben, auch in den Familien. Im Übrigen führe die dauernde Debatte über Luftbelastungen womöglich dazu, dass Eltern in den Fragebögen ein Zerrbild vermittelten.

Zerrbild in den Akten

Alle Aussagen zu Atemwegserkrankungen bei Kindern haben nämlich eine Schwäche: Sie basieren auf Fragebögen, keinesfalls auf genauer medizinischer Analyse.
Inzwischen hatte sich unter einigen Geburtswehen ein runder Tisch gebildet, an dem Politik, Bürgergruppen, Unternehmen und Wissenschaftler sitzen sollten. Fazit: Die wissenschaftlichen Antipoden in der Heizkraftwerk-Debatte, Professor Heinz-Erich Wichmann (München) und Dr. Hermann Kruse (Kiel), sollten gemeinsam noch mal ans Werk gehen. Wichmann war Gutachter für den Kraftwerksbetreiber MVV, der Toxikologe Kruse war für das Aktionsbündnis in Korbach aktiv.
So beschloss der Kreistag Ende 2009, Wichmann und Kruse gemeinsam ins Rennen zu schicken. Überdies sollten Lungenfunktion und Allergien bei den Schuleingangstests 2010 in Korbach, Gemünden und Frankenberg getestet werden.

Sofort meldete das „Ärztenetzwerk Waldecker Land“ indes Bedenken an, riet grundsätzlich von Allergietests bei den Schuluntersuchungen ab. Anfang Februar flatterte im Kreishaus zudem eine Auswertung der Kassenärztlichen Vereinigung auf den Tisch. Daten aus dem zweiten Quartal 2009 zeigten demnach – über alle Altersgruppen – dass es im Landkreis keineswegs überdurchschnittlich viele Bronchialerkrankungen gebe. Fazit: Der Landkreis sah keinen Grund mehr für weitere Untersuchungen und wollte die Beschlüsse von Dezember 2009 schon im April 2010 vom Parlament kassieren lassen.
Zum neuen politischen Beschluss kam es allerdings erst gar nicht: Abermals sorgte Post aus Wiesbaden für massive Bedenken. Diesmal war es Gesundheitsminister Jürgen Banzer (CDU), der den Ersten Kreisbeigeordneten Peter Niederstraßer mahnte, keine falschen Schlüsse aus den Akten der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) zu ziehen: Die Daten seien wenig belastbar – zumindest mit Blick auf Atemwege der Kinder.

In der kommenden Sitzung des Korbacher Parlaments am Donnerstag fordern die Grünen Luftmessungen in Korbach. Doch gesonderte Mess-Stationen sind teuer, und wo sollen sie überhaupt stehen? Das fragt sich nicht nur die CDU. Ob Luft, Boden oder Wasser – CDU-Sprecher Dr. Marc Müllenhoff sondiert nach allen bisherigen Erkenntnissen überhaupt keinen Bedarf an weiteren Untersuchungen: „Ich sehe keine erhöhten Belastungen“, betont der promovierte Geograf und Stadtverordnete.
Ernüchtert blickt Müllenhoff dagegen auf eine Vielzahl von Betriebsstörungen beim Heizkraftwerk. Die Technik sei „offenbar nicht in der Lage“, Vorgaben des Gesetzes penibel einzuhalten; die Filteranlagen nicht geeignet, um auch bei Störungen die Grenzwerte einzuhalten. „Ich denke, da sind wir uns inzwischen fraktionsübergreifend einig“, sagt Müllenhoff.
Da war so mancher Parlamentarier 2007 noch optimistischer, was das Heizkraftwerk anbelangt. Doch Heizkraftwerk und mögliche Bronchialbeschwerden bei Kindern seien eben zwei getrennte paar Schuhe, argumentiert Müllenhoff. Ziel müsse deshalb sein, Betreiber MVV dazu zu bringen, die Technik weiter zu verbessern.


Quelle: WLZ vom 05.05.2010

 

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